Scroll Top

Von Pontius zu Pilatus bis zur erlösenden Diagnose – HAE

Es ist Weihnachtszeit, zusammen mit einigen meiner neun älteren Geschwister sitze ich in der Stube und versuche der Geschichte zu folgen, die uns unsere Mutter erzählt. In meinen Armen halte ich ein Becken, ich habe Bauchschmerzen und mir ist unendlich schlecht. Das ist wahrscheinlich eines meiner ersten HAE-Erlebnisse an das ich mich erinnern kann. Damals war ich etwa fünf Jahre alt.Wenn ich krank war, dann hatte ich meistens eine „Magen-Darm-Grippe“ oder ich hatte zur Abwechslung wieder mal vom Herumtoben ein Loch im Kopf.

Mit Beginn der Pubertät sind die Bauchschmerzen, die Übelkeit und das Erbrechen immer häufiger aufgetreten. Oft habe ich die Nacht sitzend, elend und todmüde im Bett verbracht. Immer und immer wieder dieses Erbrechen, obwohl ich doch schon lange nichts mehr zu mir nehmen konnte, dann dieser trockene Mund und das unendliche Durstgefühl, einfach schrecklich!!! Zum Glück ging es mir jeweils nach ein, zwei Tagen besser, so dass ich die Schule besuchen und Zuhause mithelfen konnte. Der Bauch tat schon noch weh, aber das Ganze war erträglich. Am glücklichsten machte mich jeweils, wieder trinken zu können und meine Lust auf etwas Salziges zu stillen.
Schon lange sagte ich niemandem mehr, wenn es mir schlecht ging. Die Besuche beim Hausarzt bestätigten nur, dass der Stress und die Proben in der Schule mir auf den Magen schlagen würden.
Etwa mit 14 Jahren hatte ich plötzlich eine Schamlippe massiv geschwollen. Oh, bin ich erschrocken! Meine Schwester, die Arztgehilfin ist, meinte, das könne von einer engen Jeans kommen, oder ob ich lange im Schneidersitz gesessen sei. Beides traf nicht zu, doch ich beruhigte mich wieder und die Schwellung liess nach.So habe ich die Schulzeit hinter mich gebracht und immer gehofft, dass dieses komische Bauchweh verschwinden wird. Das Gegenteil war der Fall!!!
Auf der Diplomreise der Pflegevorschule in Rom mussten mich meine Kolleginnen ins Spital bringen, sie wussten nicht mehr, was sie mit mir machen sollten. Ich war so mies „zwäg“. Auf dem Notfall wurde mir eine Spritze verabreicht und mit der Diagnose eines Sonnenstichs wurde ich in kaum besserem Zustand wieder entlassen.
Immer und immer wieder hatte ich solche Anfälle und die Anzahl der Besuche bei verschiedenen Ärzten häuften sich. Ich wusste, spürte einfach, dass ich etwas habe. Das Krankheitsbild konnte ich so genau beschreiben, doch niemand konnte mir helfen. Die üblichen Schmerzmittel und Medikamente gegen die Übelkeit brachten kaum Linderung. Einmal bekam ich Valium zur Beruhigung gespritzt; das versenkte mich für einige Zeit in Bewusstlosigkeit. Zumindest half es ein wenig.
Für mich war stets positiv, dass es mir zwischen den Anfällen immer sehr gut gegangen ist und ich mich als gesunder Mensch fühlen durfte. Ich trieb Sport, ging tanzen, arbeitete, machte all das, was mir Spass bereitete.
Mit 18 Jahren habe ich trotz einem unguten Gefühl die Pille zur Verhütung eingenommen. Ihr könnt euch wohl vorstellen, was das mit sich gebracht hat!? Die Ödeme haben sich gehäuft. An Händen, Füssen, Knien, Genitalien und meistens im Bauch. Auch zeigte sich manchmal ein kreisförmiger Hautausschlag an den Armen. Meine damalige Frauenärztin glaubte, diese Symptome seien hormonell bedingt, so probierten wir mit verschiedenen Hormonpräparaten das Ganze in den Griff zu bekommen. Weit gefehlt, es wurde und wurde einfach nicht besser. Die Anfälle traten in den Abständen von ca. zwei bis sechs Wochen auf.
Im Frühling 1993, also mit 20 Jahren, wurde während einer Bauchattacke ein Ultraschall gemacht und etwa zwei Liter Flüssigkeit entdeckt. Mein Allgemeinzustand war stark reduziert, das Blut war stark eingedickt und die Übelkeit machte mich fertig. In der Hoffnung auf Linderung bekam ich ein Medikament gegen das Erbrechen gespritzt. Mein Körper reagierte mit extremer Überempfindlichkeit und löste epilepsieähnliche Anfälle aus. Die nächsten drei Tage lag ich auf der Intensivstation. Mein Kopf war blau wie eine Pflaume und ich konnte kaum mehr ausatmen, kaum mehr sprechen, ich glaubte, ich müsse ersticken. Das war das schrecklichste Erlebnis in meinem ganzen Leben, das ich nie, nie mehr erleben möchte!!!!
Lieber übergebe ich mich bis zum Umfallen, als dass ich nochmals ein Mittel gegen Übelkeit einnehmen werde.
Während der Zeit im Spital wurde der Dickdarm gespiegelt und anschliessend eine Bauchspiegelung durchgeführt. Weitere Untersuchungen folgten, doch nach wie vor gab es keine handfesten Ergebnisse um eine Diagnose zu stellen.
Immer mehr machte ich mich mit dem Gedanken vertraut, dass ich psychisch krank war, obwohl ich immer das Gefühl hatte, körperlich wie geistig so Einiges ertragen zu können. Ebenfalls versuchte ich zu akzeptieren, dass diese Schwellungen mich wahrscheinlich mein Leben lang begleiten werden.
Im August 1994 durfte ich überglücklich, trotz der vielen Krankheitstage, das Diplom als Krankenschwester, meinem Traumberuf, entgegennehmen. Juhee!!!
Die Suche nach einer Diagnose ging weiter. Ein Schichtröntgen sollte ausfindig machen, ob sich Gebärmutterschleimhaut irgendwo im Bauch verschleppt hatte (Endometriose). Diverse andere Röntgenaufnahmen vom gesamten Magen-, Darmtrakt folgten, bis im April 1997 erneut eine Bauchoperation angesagt war. Ich hoffte nur, dass alles gut gehen würde, wollten wir doch im August heiraten und anschliessend nach Amerika verreisen. Auf eine Diagnose war ich nicht mehr fixiert. Ich glaubte auch nicht mehr so recht daran, dass je etwas gefunden würde. Die Operation verlief gut, der „Blinddarm „ draussen und einige Verwachsungen gelöst, das war’s.
So litt ich mich weiter durch die Attacken und entschloss mich, bei einer Psychologin Hilfe zu suchen. Die Gesprächssitzungen inkl. Akupunktur haben mir sehr gut getan und vorübergehend eine Verminderung der Ödeme gebracht. Zusätzlich machte ich für ca. 2 Monate eine Leberschondiät, keinen Kaffee, keine Schokolade, keine Eier, nichts Frittiertes, nur um ein paar Beispiele zu nennen. Die Psychologin legte mir nahe, eine Schwangerschaft, was ich mir eigentlich schon lange wünschte, würde mir gut tun und die Beschwerden könnten danach besser sein.
Vergebens versuchte ich schwanger zu werden. Also entschloss ich mich, im Beruf noch eine etwas andere Richtung einzuschlagen. So wechselte ich spitalintern von der Notaufnahme in die neu eröffnete Praxis des Magen-Darm Spezialisten. Das Gebiet faszinierte mich sofort und die Arbeit bereitete mir viel Spass. Die Anfälle traten während der Zeit etwa alle vier bis acht Wochen auf. Mein „Chef“ wollte gerne wissen, was ich für ein Leiden hätte und ob er mich mal untersuchen dürfe!? Mir war das egal, ob mich noch ein Arzt mehr oder weniger untersuchte spielte keine Rolle mehr. So stellte er zur Abwechslung wieder mal viel Wasser im Bauch fest und sah, dass meine Darmwände etwa fünf mal so dick waren, als sie eigentlich sein sollten. Sofort wollte er eine Darmspiegelung machen, die ich dankend ablehnte. Er machte mich auf eine Krankheit aufmerksam, die ein solches Krankheitsbild hat und legte mir nahe, das Blut auf den C1- Inhibitor und den Komplementfaktor C4 untersuchen zu lassen. Nach langem Drängen liess ich im Februar 1999 die Untersuchung machen.
Ich traute meinen Augen nicht, als ich ein paar Tage später die Laborresultate in den Händen hielt. Beide Werte lagen deutlich unter dem Richtwert. Bedeutete das für mich eine Erklärung für meine Anfälle, für die Schmerzen, das Erbrechen!?
Das tat es allerdings!!! Endlich konnte ich meine Krankheit beim Namen nennen, durch eine simple Blutuntersuchung. Ist das zu glauben?!Von nun an fing ich an, mich gezielt mit dem Krankheitsbild von HAE zu befassen und stellte bald einmal fest, dass darüber noch sehr wenig bekannt war. Mein Arzt konnte mir einige Berichte aus Fachzeitschriften geben und hatte auch Kontakt mit Prof. Wüthrich vom Universitätsspital Zürich, das einige Informationen lieferte.
Natürlich tauchte bald einmal die Frage auf, ob ich HAE von meinen Eltern geerbt hatte. Um möglichst schnell Klarheit zu schaffen, wurden die dazu notwendigen Untersuchungen durchgeführt. Mit dem Resultat, dass die Mutter, wie der Vater, normale Werte zeigten. Damit war klar, dass ich eine „Neumutation“ bin.
Jetzt ging es darum, mit was für Medikamenten ich behandelt werden sollte. Hormone kamen für mich nicht in Frage, da ich mir sehnlichst Kinder wünschte. Also war eigentlich klar, dass ich bei einem akuten Schub Berinert gespritzt bekam. Um möglichst unabhängig und selbständig zu bleiben, lernte ich, mir das Medikament selbst zu verabreichen. Zugegeben, da ist mir mein Beruf als Krankenschwester enorm zugute gekommen!
Zu Beginn der Behandlung mit Berinert war ich stets sehr zurückhaltend, schwebten mir doch die hohen Zahlen der Medikamentenkosten meist vor Augen. Nach und nach habe ich nun begriffen, dass es nichts, nein absolut gar nichts bringt, mit dem Spritzen lange zu warten. Die Ödeme mit ihren Symptomen werden unnötig schlimmer und die Kosten, die für mich entstehen, sind es mir wert, wenn es mir danach gesundheitlich besser geht. Ich habe dadurch viel von meiner Lebensqualität zurück erhalten!!!
Zweifel kamen auf, als ich im Winter 2000 schwanger wurde. Ich war verunsichert, ob ich Berinert nehmen durfte, ob eventuell das Baby Schaden nehmen könnte. Mit dem Kopf voller Fragen und Ängsten, gelangte ich übers Internet zur deutschen HAE-Vereinigung, wo ich sofort beruhigt werden konnte und mir Erfahrungen von betroffenen Frauen mit Kindern weitergegeben wurden. Ebenfalls beruhigte mich, dass Berinert ein körpereigenes Produkt ist, nur stammt es von anderen Menschen. Ich war auch davon überzeugt, dass ein unbehandeltes Bauchödem dem Baby mehr Schaden zuführen konnte als ein Eiweissersatz.
Während der ersten fünf Schwangerschaftsmonate musste ich ca. 1x pro Monat spritzen. Ab dem sechsten Monat häuften sich die Attacken auf einmal pro Woche. So langsam war mir nicht mehr wohl dabei, sagte man mir doch, dass man in der zweiten Hälfte der Schwangerschaft eher beschwerdefrei sein sollte. Trotzdem spritzte ich mir wöchentlich 500 Einheiten Berinert.
Hoch erfreut war ich, als während dieser Zeit die Einladung zum ersten HAE-Treffen im Briefkasten lag. Endlich Leute kennen lernen, die an der selben Krankheit leiden, sich mit ihnen austauschen und Neuigkeiten erfahren. Am 23. Juni 2001 war es dann endlich soweit, das Treffen in Olten stand vor der Tür. Einerseits freute ich mich, anderseits war es mir nicht danach, das Haus zu verlassen. Am Donnerstag den 21. Juni hatte ich den letzten Anfall, brachte die Beschwerden aber nur teilweise weg. Am Samstag hatte ich vermehrt Bauchweh und Übelkeit, es war jedoch mit einer Schmerztablette erträglich, dennoch fühlte ich mich nicht gut. Nach einem kurzen Spaziergang an der Aare war ich froh, die Vorträge und Gespräche sitzend zu verfolgen. Alles war äusserst interessant und ich fühlte, wie gut mir das getan hatte, andere Betroffene zu sehen.
Nur leider verschlechterte sich mein Zustand im Verlauf des Abends, mein Bauch war steinhart, krampfhafte Schmerzen, Magenbrennen, Übelkeit und Erbrechen. Ich musste im Bett sitzen, hatte Durst und machte mir riesige Sorgen um das kleine Lebewesen in meinem Bauch. Ohne ein Auge zu schliessen, litt ich mich durch die Nacht. Am Morgen wusste, fühlte ich, dass etwas nicht in Ordnung war. Nach einem kurzen Telefon mit der Hebamme, machten wir uns, mit dem Gedanken, dass ich jetzt wohl für ein paar Wochen liegen musste, auf den Weg ins Spital. Sofort wurde ich untersucht und genau so schnell war klar, dass ich die ganze Zeit Wehen hatte und das Baby zur Welt kommen wollte. Die Herztöne waren beängstigend und zudem war es doch noch viel zu früh! Mit der Ambulanz wurde ich rasch in die Frauenklinik in Bern verlegt, in der sie für zu früh geborene Kinder ausgerüstet sind. Bei einem erneuten Ultraschall wurde, nebst viel freier Flüssigkeit im Bauch, festgestellt, dass sich der Mutterkuchen ablöste und so das Baby nicht mehr genügend mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt wurde. Ein Kaiserschnitt wurde also unumgänglich und das im siebten Schwangerschaftsmonat. Mein Mann und ich sprachen uns gegenseitig Mut zu und wir hofften nur, dass unser Kindlein leben wird. Wir machten uns solche Sorgen; hatten noch keinen Namen, wird es ein Mädchen oder ein Junge, Zuhause ist noch nicht alles bereit, Angst und Freude, ein Wirrwarr der Gefühle. Wir sollten heute Eltern werden!?
Es war ein so schöner, strahlender Sonntag, das musste einfach gut gehen!!!
Um kein unnötiges Risiko bei der Operation einzugehen, wurde mir vorsorglich Berinert gespritzt. Die Geburt bekam ich in der Narkose nicht mit, das war mir in dem Moment auch völlig egal. Die Hauptsache war, dass alles vorbei und in Ordnung war. Wir waren stolze Eltern einer wunderbaren, winzigen, lebenswilligen Tochter!!!
Auf Empfehlung bestand ich darauf, dass bei Naomi aus dem Nabelschnurblut der C1- Inhibitor und Komplementfaktor C4 bestimmt wurden. Eine erste Beruhigung war, dass die Werte im Normbereich lagen. Damit ist jedoch ein HAE bei unserem Sonnenschein nicht ausgeschlossen und doch wüssten wir, wonach gesucht werden müsste, wenn sich gewisse Symptome zeigen würden. Auch würde ihr ein langer Leidensweg erspart bleiben. Naomi ist heute ein gesundes, aufgewecktes Mädchen!!! Was für eine Freude!
Beim zweiten HAE-Treffen am 27. Oktober 2001 erfuhr ich im Gespräch mit Dr. Thomas Kühne, dass Patientinnen mit einem hereditären Angioödem ein erhöhtes Risiko haben, eine Frühgeburt zu erleiden. Für mich kam diese Erkenntnis leider etwas zu spät, hätte ich doch während der Schwangerschaft bestimmt mehr Sorge getragen und ev. mit der Arbeit kürzer getreten.
Heute habe ich etwa zweimal im Monat eine Attacke und spritze mir jeweils so früh als möglich 500E Berinert P. So kann ich ein ziemlich normales Leben führen, ohne lange das Bett hüten zu müssen.
Natürlich frage ich mich jedes mal, muss das wirklich sein und warum gerade ich. Es ist jetzt einfach so und ich bin so froh zu wissen, was ich habe und wie die richtige Behandlung aussieht. Ich bin dankbar, nicht jeden Tag Schmerzen zu haben und eine Reihe Medikamente einnehmen zu müssen.In der Hoffnung, dass vielen Menschen ein solcher Weg bis zur Diagnose erspart wird, habe ich mich entschlossen, aktiv in unserer Vereinigung mitzuhelfen und möchte viele ermutigen, aus dem Dunkel von negativen Erinnerungen und dem nicht ernst genommen werden herauszukommen. Keiner soll alleine sein, wir sind eine Gruppe, zusammen sind wir stark!!!!

Autorin Jolanda